collector’s choice

Ein Versuch über das Sammeln oder: Ich bin ein Diener der Kunst.
Die Wohnung eines Sammlers, Berlin 2015

Eine „Akkumulation der Zeit“ nannte der US-amerikanische Künstler mit russischen Wurzeln Boris Lurie seine aus Zeitungsausschnitten, Faxpapieren und Bildern über Jahrzehnte regelrecht zugewucherte Wand in seiner Wohnung in der 66. Straße in Manhattan. Man könnte diesen Terminus auf den Raum erweitern und auf die Wohnung des notorischen Liebhabers und Sammlers von Katalogen, Künstlerbüchern, Editionen und Objekten bis hin zu Nippes beziehen. Susanne Wehr hat aus verschiedenen Blickwinkeln und in eindrücklichen Schwarz-Weiß-Fotografien die raumgreifenden Architekturen aus Büchern festgehalten. Die Wohnung des Sammlers in Berlin ist über viele Jahre zugewachsen. Schicht um Schicht, Quadratmeter um Quadratmeter addierten sich hier die einzelnen Elemente zu einer Landschaft, einem Environment, das seinesgleichen sucht. Bücherstapel, fragil, sich gegenseitig stützend, besiedeln die Räume bis hin zum Bad- und Schlafzimmer, während die Küche, die nur Sitzplatz für eine Person, den Bewohner selbst, bietet, allem möglichen anderen als Stauraum dient. Als selten empfundene Blechschachteln oder sonstige Utensilien bis zu Kunstobjekten an der Wand und der Decke beherrschen die Küche; einzig der Boden ist im Unterschied zu den anderen Räumen relativ frei. In dem Rest der Wohnung erlauben nur schmale Gänge ein äußerst behutsames Vortasten, um die drohende Gefahr des Einsturzes der wackeligen Türme zu verhindern. In den Wohntrakten lebt ein vorwiegend Buchbegeisterter mit seinen zu Bergen geschichteten Objekten der Begierde, die oftmals in drei Exemplaren vorhanden sein müssen, damit immer eines original verpackt, jungfräulich und unberührt bleiben kann. Des Sammlers Drama ist, dass selbst mehrere Lebenszeiten zu einem Leben addiert, nicht ausreichend Zeit bieten würden, um alles zu würdigen, geschweige denn zu lesen. Aber davon hat sich der Sammler längst verabschiedet. Es bleibt auch keine Zeit zum Räsonieren, denn die Verlage seines Interesses spucken jedes Jahr Nachschub aus. Letztlich entschied der Sammler, die schönsten Früchte seiner Leidenschaft, die über Jahrzehnte gewachsene Bibliothek, im Vorlass der öffentlichen Kunst- und Museumsbibliothek in Köln zu stiften.

Matthias Reichelt